Wir stehen vor den Trümmern unserer Menschlichkeit. Und es scheint noch kein Ende in Sicht zu sein. Wir fragen uns, wie „danach“ eine Zukunft aussehen könnte, falls es ein Ende von all dem geben wird. Falls dann noch Menschen da sein werden, die in der Lage sind, als Mensch etwas Lebendiges zu erschaffen, wofür es sich lohnen könnte, zu leben. Das gleicht der legendenhaften Suche nach dem Heiligen Gral aus der Arthus-Sage, man erinnert sich an Parzival, der auszog, um den Heiligen Gral zu suchen. Es lohnt sich, sich in diese Legende einmal zu vertiefen. Dort könnte der Schlüssel liegen für uns, jetzt, in dieser Zeit, wo sich alles entscheidet. Mancher kann sich an diese Legende noch erinnern:

Parzival versäumt, dem leidenden König Amfortas die Frage zu stellen, die diesen von seinem Leid heilen kann. Gehorsam befolgt er die Anweisung: „frag nicht, hinterfrage nicht“. Das bedeutet in diesem Fall: sein Gehorsam macht Parzival zu einem Wesen, welches sich dem anderen nicht mit offenem Herzen zuwendet, sich nicht für ihn interessiert, sich nicht anrühren läßt von dessen Befindlichkeit und Bedürfnis und dessen Not.

Parzival wundert sich stattdessen über Pracht und Herrlichkeiten und läßt sich dann bedienen, „frisst sich voll“ und legt sich zum Schlaf nieder. So versäumt er, den König zu heilen und so versäumt er, den Heiligen Gral zu erkennen.
Viele Jahre später nach einem Entwicklungsweg, mit vielen Wunden durch das Leben, mit nun offenem Herzen, bekommt er erneut, letztmalig, dieselbe Gelegenheit. Und er erfüllt, was erforderlich ist, er fragt voller Mitgefühl den König, was mit ihm sei und heilt ihn damit. Nun „findet“, erkennt er den Gral.

Was bedeuten diese Bilder?

Was ist das, der Heilige Gral? Er ist ein wundertätiges Gefäß, er ist der „Schlüssel“ zur Rettung und Erlösung der leidenden Menschheit, er trägt das Geistige in sich, welches die Menschheit sucht und benötigt.

Die Gralsburg ist eine Art Festung. Die Legende berichtet, dass sie versteckt nahe einem Fluss oder See liegt. Nach der Verwüstung des Landes kann sie nur von einem Menschen reinen Herzens gesehen werden. Dort lebt und leidet der König Amfortas und dort hütet er den Heiligen Gral.

Die Parzval-Legende behandelt komplexe Themengebiete. Es geht um das Verhältnis von Gesellschaft und Geistiger Welt, um die Gegensätze zwischen Männerwelt und Frauenwelt, die Spannung zwischen der höfischen/materiellen Gesellschaft und der spirituellen Gemeinschaft der Gralshüter, um Schuld im existenziellen Sinn, um Erlösung, Heil und Heilung. Es geht auch um Bilder eines Paradieses, oder hier in diesem Zusammenhang um eine Zukunft, welche heil ist, lebenspendend, voller Licht und Liebe etwa.

Der Lebensweg, die Entwicklung, macht aus dem selbstbezogenen jungen Parzival einen empathiefähigen, zugewandten liebevollen reifen Mann. Mit diesen durch Leid entwickelten Fähigkeiten kann er heilen/erlösen, was krank ist und geheilt/erlöst sein will.

Was hat das mit uns zu tun inmitten aller von uns selbst erschaffenen Trümmern und all dem Entsetzlichen?

Wo ist heute die Gralsburg, wenn nicht da, wo wir jetzt sind, genau dort?
Nun sind wir alle Parzival. Wo stehen wir auf unserem Lebensweg. Sind wir noch die kindlichen Narren? Gehorchen wir noch blind, selbstbezogen auf unsere kleinen Belange mit verschlossenem Herzen? Oder sind wir unseren Lebensweg schon ein Stück gegangen, haben wir uns entwickelt, hin zu einem empathiefähigen Wesen?

Doch wer ist der leidende König? Ich erlaube mir, hier zu sagen: die Menschheit – und jeder einzelne Mitmensch. Seit Jahrzehnten verweigern wir hartnäckig die Frage, verweigern unseren Entwicklungsweg, verweigern, unser Herz zu öffnen. Wir schauen, wir hören weg, wir bleiben zu Hause an der reich gedeckten Tafel sitzen und überlassen die Menschen ihrer Not.

Nun sind wir aber mindestens seit Anfang 2020 alle zutiefst verwundet, isoliert, eingesperrt, Hausarrest, maskiert unseres Antlitzes beraubt, schweigsam, ohne Gesang, werden täglich verwundet an Körper, Seele und Geist, werden verletzt und vergiftet, werden systematisch entmenschlicht. Befolgen die Menschenunwürdige Vorschrift, nicht zu fragen, nicht zu hinterfragen, nicht zu denken, uns abzuwenden. So mancher ist zum täglichen Folterknecht geworden, nur auf Befehl, von Berufs wegen.

Und vor unseren Augen all die leidenden Könige. Wir sehen zu, wie sie sterben, unerlöst, reihenweise, massenhaft. Wir schweigen, selbst schon dem Tode nah. Und gehorchen den Vorschriften oder ducken uns weg.

Wem könnten wir die Frage stellen, wem könnten wir uns mit dem Willen zu heilen, zu erlösen, die Not zu lindern, zuwenden?

Nur noch unseren Nächsten, unseren Brüdern und Schwestern, mit welchen wir zusammenkommen. Unseren Ehepartnern, unseren Kindern, unseren Nachbarn, unseren Mitmenschen, welchen wir zufällig begegnen hier und da. Und wir könnten diese Frage in die Zukunft richten: „Menschheitszukunft, was fehlt dir, was brauchst du, was kann ich für dich tun, wie kann ich dir helfen, was kann ich tun, damit du lebst und gedeihst?“

Die Dreigliederung des sozialen Organismus, die Gralsburg, in welcher sich der Schlüssel finden läßt, den so viele Menschen heute suchen, der die Zukunftsgestalt enthält, die zur Heilung beitragen kann, fordert: Stelle die Frage mit dem Wunsch, den anderen zu erkennen als den leidenden König. Mit dem Wunsch, ihm zu geben, was er braucht. Mit dem Herzenswunsch, zu heilen, zu erlösen. Wende dich mit offenem Herzen dem Nächsten zu und der Menschheit und frage!

Wer bist du? Wie geht es dir? Was brauchst du? Was kann ich für dich tun?
Jeder Mensch ist heute Parzival, dem Tode nahe inzwischen. Jeder Mitmensch ist der leidende König, dem Tode nahe. Wer wird endlich beginnen, die Fragen zu stellen und zu handeln?
So viele Könige sind in den letzten Monaten gestorben, vor unseren Augen.
Eine dritte Chance gibt es nicht. Für die toten Könige sind wir verantwortlich. Für die sterbenden auch. Und für den Rest auch.

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